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Leider keine Übertreibung

Die neueste Kunstaktion des Zentrums für politische Schönheit teilt in alle Richtungen aus. Bei aller Kritik: Das ist angemessen.

fauchender Tiger
Teaser Bild Untertitel
Das Zentrum für politische Schönheit will am 28.6.2016 vier Tigern Flüchtlinge zum Fressen vorwerfen.

„Wer sich Kampagnen wie ‚Flüchtlinge fressen‘ ausdenkt, der hat sich von der Verrohung der Flüchtlingspolitik anstecken lassen“, schreibt Christian Jakob in seinem Verriss der neuesten Aktion des Zentrums für politische Schönheit (ZPS). Das ZPS kündigt an, ein Flugzeug zu chartern, das Menschen ohne Visum, aber sicher nach Deutschland bringt.

Das mache Sinn, so Jakob – jedoch gleichzeitig eine Arena mit vier echten libyschen Tigern zu bestücken und bei Nichtgelingen der illegalen Passage verzweifelte Geflüchtete zum Suizid einzuladen, sei zuviel der Menschenverachtung. Doch nicht das ZPS speist den Zynismus in die Mitte der bürgerliche Gesellschaft ein, es macht die Normalisierung der Menschenverachtung sichtbar, leider ohne zu übertreiben.

Der Innenminister hat dieser Tage ohne Not und ohne Faktengrundlage Ärzte in Deutschland angegriffen, sie stellten vermehrt ungedeckte Atteste aus, um Abschiebungen zu verhindern. Diese Verleumdung kostet Menschenleben. Doch genau daran sollte sich die Gesellschaft gewöhnen. Selbstbewusst verteidigte er im April den Türkei-Grenz-Deal: „Auch wenn wir jetzt ein paar Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ Der Ansatz treibt Menschen zu tausenden ins Meer, und Human Rights Watch berichtet, dass das von der AfD durchgespielte Szenario vom Schießbefehl an der türkischen Grenze gilt und Tote fordert. Die Bundesregierung schweigt dazu.

De Mazière genauso wie seine Kolleg_innen im europäischen Ausland beziehen ihre Popularität von der existentiellen Verzweiflung von Überlebens_heldinnen ohne Heimat und sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass diesen Menschen nur noch eine Rolle zugewiesen wird: Flüchtling zu sein. Und über das Leben von „Flüchtlingen“ entscheiden allein die Paßbesitzer_innen und ihre Daumen zeigen schon seit Monaten vor allem nach unten. Das Recht auf Leben wird Schutzbedürftigen also nicht im angekarrten Tigerkäfig entzogen, sondern in der Arena der demokratischen Mitte. Ein paar harte Bilder, gilt es da schon auszuhalten.

Gaucks Porträt im Käfig

Und wir halten die Bilder von den Ertrunkenen und den entsetzten Überlebenden, die auf der Balkan-Route in Internierungslager gesteckt werden oder in Idomeni im Schlamm verrecken, ja auch schon ganz gut aus. Rechnet noch jemand damit, dass Präsident Gauck ein Machtwort gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik spricht, im Namen der Menschlichkeit? Eher nicht. Sein Porträt hängt zu Recht im Tigerkäfig.

„Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ setzt sich in großem Stil über das Ordnungssystem der Grenze hinweg. Im Rahmen der Kunstaktion werden nationale Grenzen als Verbrechen gewertet, Kunst und Aktivismus vermischt, guter Geschmack mit schlechtem verbunden, und die richtige politische Forderung gleich am ersten Abend von Gaukler_innen vorgetragen. So soll Gauck die EU-Richtlinie 2001/15/EG, Absatz 3 des Paragraphen 63 im Ausländerrecht aussetzen. Dort wird festgelegt, dass Beförderungsgesellschaften, die Menschen ohne Visum befördern, hohe Geldstrafen zahlen müssen.

Das ZPS weist damit auch den Kritiker_innen der Flüchtlingspolitik die zweifelhafte Rolle der Budenzauberer zu. Niemand in diesem brutalen realpolitischen Spiel um geschlossene Grenzen ist noch eine verlässliche Partner_in. Wie auch? Wenn Menschen vor laufender Kamera und ganz legal das Recht auf Leben entzogen wird, ohne dass die Gesellschaft Kopf steht, dann entspringt die obszön leuchtende Menschenverachtung nicht dem Ego des künstlerischen Leiters des ZPS, wie Christian Jakob in seiner Rezension kritisiert, sondern sie hat den Alltag der Mehrheitsgesellschaft gekapert. Längst haben wir uns zum Teil des brutalen Spektakels machen lassen.

Und aus der Nummer kommen wir sicher nicht durch die Kritik an Geschmacklosigkeit oder Eitelkeiten oder durch Diskussionen um Kunst und Nichtkunst raus. Stattdessen ist Streichung des Paragraphen angesagt.

Trotzdem lässt die Aktion bislang eine entscheidende Frage offen: Wie will es die ungebetenen Passagiere vor der menschenvernichtenden Bürokratie schützen, selbst wenn sie den ersten Schritt geschafft hätten und eingeflogen würden? Was passiert, wenn die Behörden ihre Namen erfahren und alles daran setzen dürften, dass ihr ziviler Ungehorsam keine Schule macht, ihr Leben also nicht gerettet wird?